14. März 2008

Leicht formbares Menschenmaterial

Neben dem brandneuen Kinofilm "Die Welle" hört oder liest man nur selten authentische Berichte und Warnungen bezüglich der Gefahr möglicher Beeinflussung und Konformierung von Schülerschaften durch Gruppendynamiken und kollektive Ausrichtung. Der Österreichische Zeitzeuge F.K.Stanzel erinnert sich an 1938, wie widerstandslos, ja teils sogar freudig, politisch gewünschte Ideologien durch Schule und Schüler aufgenommen wurden. Auf einem anderen Blatt steht, dass es zudem das Geburtsjahr des forcierten und strafbewehrten Schulbesuchs in Deutschland war und bei uns bis heute fortlebt.

Leicht formbares Menschenmaterial
Von F.K.Stanzel

... Dann kam wenige Tage nach dem Einmarsch {der Nazis 1938 nach Steyr} am 12. März ein Erlebnis, das, wäre ich weniger autoritär und den politischen Verhältnissen gegenüber kritischer erzogen worden, mich zumindest hätte hellhöriger machen müssen. Eines Nachts wurde ich zusammen mit vier oder fünf anderen Schulkollegen vom Präfekten des Konvikts aus dem Bett geholt und zu einem Verhör in der Kanzlei des Pater Direktors geleitet. Dort saß am Schreibtisch ein Mann in schwarzem Ledermantel, der uns einzeln verhörte. Einige der Mitschüler, die sich jetzt als "Illegale" ausgaben, hätten sich von uns Jung-Sturmschärlern bedroht gefühlt. Das war reine Wichtigtuerei, die offensichtlich auch von dem SS-Mann nicht ganz ernst genommen wurde. Vermutlich war das Ganze eher als eine Drohgebärde gegenüber den Franziskanern gedacht.
In der Tat folgte bald darauf die Ankündigung, dass die Wehrmacht das Schloß Vogelsang {das damalige Realgymnasium für Knaben} requirieren werde. Was mich der Schwarzmantelträger gefragt hat, weiß ich heute nicht mehr. Ich kann mich aber noch genau an eine Geste erinnern, die er setzte, während ich vor ihm stand: Plötzlich ergriff er das Dollfuß-Bild, das auf dem Schreibtisch des Direktors stand, drehte es um und legte es mit der Bildseite nach unten auf den Schreibtisch. Dazu bemerkte er - und seine Worte habe ich noch gut in Erinnerung: "Den brauchen wir jetzt nicht mehr!" Das nächtliche Verhör blieb für uns folgenlos, ja, wir Verhörten fühlten uns sogar ein wenig ausgezeichnet durch die Aufmerksamkeit, die die neuen Machthaber uns entgegenbrachten. Eine psychologisch höchst bemerkenswerte Reaktion auf eine, wenn zunächst auch noch harmlos scheinende Einschüchterung.

Überall begann jetzt eine große Umorientierung, die mit der "Reeducation", wie sie von den Alliierten nach dem Krieg an den Angehörigen des Dritten Reichs versucht wurde, nichts oder nur wenig gemein hatte, zumindest was uns Jugendliche betraf. Wir hatten buchstäblich nichts zu verantworten und kaum etwas zu befürchten. Aufgrund unserer bis dahin durchgehend autoritären Erziehung und Bildung waren wir leicht formbares "Menschenmaterial" geworden, ein schrecklicher Terminus, an den wir uns bald gewöhnten. ...

Am schwersten fällt mir heute, meine Unbekümmertheit und Passivität vor mir selbst zu rechtfertigen, mit der ich, wie auch alle anderen in der Klasse, geschehen ließ, was einige Rowdies unserem einzigen jüdischen Mitschüler, Sohn des Inhabers des Konfektionshauses Garde in der Engegasse, antaten. ...
Dieser rasche Gesinnungswandel wäre selbst unter Berücksichtigung unserer jugendlichen Verführbarkeit heute kaum zu verstehen, wüsste man nicht, dass es im Programm der Vaterländischen Front und dem Nationalsozialismus ideologische Berührungspunkte gegeben hat, die heute weithin vergessen sind oder verdrängt werden. So lese ich in dem mir damals übergebenen Programm der Ostmärkischen Sturmscharen, angefertigt vom "Reichsführer" Dr. Kurt Schuschnigg, nach einer katalogartigen Selbstdefinition des Sturmschärlers als Katholik, Deutscher und Österreicher (in dieser Reihenfolge!) Folgendes:
Österreich habe "Hab und Gut, Blut und Wesen in die Schanze geschlagen, um deutsches Wesen und christlich-abendländische Kultur vor den Instinkten Asiens und des Balkans zu schützen. [...] Daher kämpfen wir gegen Verwüstung und Entchristlichung unseres Volkes und Kulturlebens; gegen den jüdisch-liberal-sozialistischen Geist des Materialismus", usw. usw.
Wenn das ernsthaft unser Programm war, konnten wir das dann mit Hilfe der so viel mächtigeren Deutschen und ihrem großen Führer nicht besser verwirklichen denn als kleines, auf sich selbst gestelltes Österreich? Sollte das einem Fünfzehnjährigen, der obendrein in seinem kurzen halbwüchsigen Alter nie erfahren hatte, was demokratische Selbstbestimmung für ein Leben in Freiheit bedeutet, nicht einleuchten?

Franz Karl Stanzel ist Anglist und Literaturwissenschaftler. Er war Professor in Göttingen und Erlangen, heute ist er emeritierter Professor an der Universität Graz.
Quelle: http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/368870/index.do

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