18. Januar 2008

Sich häufende Sorgerechtsentzüge

Gesetzerprobung: Beschleunigte staatliche Eingriffe gegen alle Nichtschüler
Von Jan Edel
http://liberty.li/magazine/?id=4609

Der Hintergrund für die seit Ende letzten Jahres plötzlich zunehmenden Bedrohungen von Behörden mit dem Entzug des Sorgerechts, eigentlich nur gegen Eltern, die ihren Kindern Homeschooling in Deutschland ermöglichen, scheint gefunden. Ein neuer Gesetzentwurf. Und die bundesweite „Erprobung“ dieses Gesetzes im Rahmen eines Modellprojekts. Aber der Reihe nach.
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Mit dem neuen Gesetz, das ab Mitte 2008 verabschiedet und in Kraft treten soll, wollte die Regierung vorgeblich auf die bekannt gewordenen Fälle von Kindeswohlvernachlässigung reagieren. Aber offensichtlich auch den zunehmenden Fällen von Schulverweigerung soll damit begegnet werden, wie die prompte Einmischung des Berliner Schulsenators Jürgen Zöllner (SPD) beweist: „Dieser Fall ist mir besonders wichtig, weil Behörden und Justiz deutlich gemacht haben: Eltern, die nicht darauf achten, dass ihre Kinder zur Schule gehen, vergehen sich an ihren Kindern“. Leider wird mit keiner Silbe der Eltern gedacht, die ihre Kinder bewusst wegen der Gefährdung der Erziehung (und manchmal Bildung) durch das Schulsystem aus der Schule nehmen und eigenverantwortlich für beides (engl. ‚education‘) sorgen. In Deutschland wird die Zahl dieser Familien auf 500 geschätzt. Hier von Verbrechen, Vernachlässigung oder Gefahr für das Kindeswohl zu sprechen, ist angesichts weltweiter und völlig legaler Verbreitung dieses Verfahrens (sog. Homeschooling) diskriminierend und – wenn hier Absicht unterstellt werden kann – sogar frech und skandalös. Derselbe Schulsenator nämlich, von Hause aus kein Jurist wie sonst die meisten Schulfunktionäre, hatte Anfang 2007, damals noch Vorsitzender der Kultusministerkonferenz (KMK), die dringenden Mahnungen des UN-Sonderberichterstatters Munoz zur Liberalisierung des Homeschoolings in Deutschland heftig abgewiesen und gezielt bekämpft (wir berichteten). Auch Zöllners Hinweis darauf, dass „Behörden und Justiz“ Schulverweigerung als Elternversagen „deutlich gemacht haben“ verrät das scheinbar nicht unwesentliche Ziel des eifernden Senators: Nie hat es in der deutschen Geschichte eine höchstrichterliche Bestätigung der Formel Schulverweigerung=Sorgerechtsentzug gegeben als allein im Falle zweier Elternpaare, die ihren Kinder bewusst und beaufsichtigt außerschulische Bildung ermöglichten (siehe BGH-Urteil vom 16.10.2007, wir berichteten).

Ein Sprecher des „Netzwerks Bildungsfreiheit“ kommentiert indes: „Der Schulzwang in Deutschland mag zwar demokratisch erhalten geblieben sein, ist aber im Wesen zutiefst undemokratisch und vor allem erst durch das Nazi-Regime vor 70 Jahren zustande gekommen.“ Mit den Wurzeln dürfte das Reichsschulpflichtgesetz von 1938/1941 gemeint sein, nachdem jeglicher Privatunterricht unter Strafe gestellt wurde und Maßnahmen wie die polizeiliche Zuführung zur öffentlichen Schule eingeführt wurden. Der Sorgerechtsentzug für sich widersetzende Eltern war allerdings ausgenommen und dem Fall des Kindesmissbrauchs vorbehalten. Die braunen Schulgesetze hingegen wurden nach dem Krieg nicht zurückgebaut und im Gegenteil sogar fast gleichlautend in die entstehenden Bundesländer übernommen.

Die Grundlage eines vermeintlich staatlichen Erziehungsauftrags war gelegt und sein Ausbau nahm – entgegen dem Wortlaut des Grundgesetzes und im Gegensatz zu den Ländern der Alliierten – seinen Lauf.

Mehr zum neuen Gesetz und den ganzen Artikel lesen Sie bitte unter folgendem Link weiter.

Quelle: http://de.liberty.li/magazine/?id=4609

Hier der Gesetzentwurf der Bundesregierung:
http://www.bmj.bund.de/files/-/2317/RegE_Gef%C3%A4hrdung%20Kindeswohl.pdf


Einige Leserreaktionen/Kommentare:

Nachdem immer klarer wird, daß viele Kinder und Jugendliche so sehr an der Schule leiden, daß sie krank werden oder die Konsequenzen ziehen und schwänzen, nachdem immer deutlicher wird, daß Bildung ohne Schule ein Erfolgsmodell ist, und nachdem Vernor Munoz das deutsche Schulsystem heftigst kritisierte und außerdem eine gesetzliche Regelung von Homeschooling angemahnt hat, hat dieser Satz aus dem Munde von Jürgen Zöllner, Präsident der Kultusministerkonferenz und Berliner Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung, ein ganz anderes Gewicht, als wenn er vor zwei Jahren ausgesprochen worden wäre.
... Das BGH-Urteil vom November letzten Jahres und dieser Gesetzesentwurf legen die Grundlagen, um Eltern allein wegen fehlendem Schulbesuch ihrer Kinder/ihres Kindes das Sorgerecht zumindestens teilweise zu entziehen. Armes Deutschland! Dies kann kein Zufall sein, meines Erachtens hat es System, daß Deutschland in Zeiten, wo es anderenorts zu Modernisierung und Öffnung kommt, eine Politik der Bevormundung und Kontrolle forciert. (E. Kuhnle)


ich frage mich irgendwie seit Tagen, ob es "damals" (vor 75 Jahren) auch so angefangen hat. Hier ein Schnipselchen Freiheit weg, dort ein wenig reglementiert... Und keiner merkt es, weiles so schleichend geht.
Hätte ich nicht gerade ein wunderbares Buch in Arbeit - Parenting For A Peaceful World - in dem der Autor ziemlich gut nachweist, dass
Diktaturen mit der sozialen Evolution immer unwahrscheinlicher werden, würde ich mir langsam wirklich ernsthaft Sorgen machen. (J.D.)
"Warum findet Deutschland keine andere Antwort, als Gewaltanwendung (Red.: poliz. Zuführung, Sorgerechts-, Freiheitsentzug)?"
E. Kuhnle:
DAS ist genau der Punkt, der mich immer mehr stutzig macht. Und, wenn man ausschließt, daß all die Verantwortlichen völlig bescheuert sind, kann die Antwort eigentlich nur lauten: "WEIL Deutschland keine andere Antwort als Gewaltanwendung finden will." Deutschland (ist ja auch die Frage, wer da nun alles dazu gehört, ich denke, es sind genauso die normalen Bürger wie die Politiker etc.) hat Erfahrung mit der Gewaltanwendung und dem Zwang, mit "Zucht und Ordnung" (Preussen). Ich denke, da wirken historische Dinge, möglicherweise auf eine Jungsche Weise (à la kollektives Unbewußtes). ...
Und aus diesem Grund bin ich mittlerweile für Deutschland SEHR skeptisch.
Außerdem werden die neuen Gesetze, wenn sie einmal verabschiedet sind, in jedem Fall auch auf Homeschooler Anwendung finden, vielleicht nicht auf alle, aber es wird noch mehr Bekämpfung von Homeschool-Familien mit den neuen Mitteln geben, als es derzeit schon der Fall ist.
Ich bin davon überzeugt, dass der Staat nicht und nie religiöse und andere Schulverweigerer unterscheiden wird. Es wird Dir nicht entgangen sein, dass zwar in der Presseerklärung des BGH zum Beschluss ausdrücklich die *religiösen* Schulverweigerer (mit suggestiver Absicht) in die Begründung für die Sorgerechtseinschränkung geführt wurden, dass aber in den entscheidenden Sätzen des Beschlusses selber die Verallgemeinerung gilt: Schulverweigerung == Kindeswohlgefährdung. Keine Differenzierung. Und sie haben Recht: Wie sollte denn auch eine Unterscheidung vor Gericht aussehen? Gesinnungstest? Lügendetektor? Glaubensnachweise? In Holland gab es bis vor nicht allzu langer Zeit diese Unterscheidung. Familien waren auf einmal religiös, weil nur in diesem Fall sie ihren Kindern Homeschooling anbieten konnten. Mittlerweile wurde die Unterscheidung dort aufgehoben, weil man nicht wirklich trennen kann. Wie willst Du denn glaubhaft "nicht-religiöse" Verweigerer nachweisen? Sollen sie auf die Bibel schwören? Ich glaube, man ist naiv, wenn man die generelle staatliche Front gegen jede Art der Ablehnung des Schulsystems verkennt. Machen wir uns nichts vor! (anonym)
Mir drängt sich die Vermutung auf, dass dieser von Behörden und Schulfunktionären immer wieder zitierte BGH-Beschluß mit aller Macht erwirkt wurde, also "etwas nachgeholfen" wurde.
Der Beschluß hatte den Hausunterricht (und den damit verbundenen) Schulboykott) zweier "religiös motivierter" Familien zum Anlass.
Während in die Öffentlichkeit getragen wurde, dass der Beschluss erging wegen der besonderen Motivation der Eltern, enthält der Beschluss selbst 1. eine pauschale Diffamierung aller Homeschooler und 2. die pauschale Formel "Bildung ohne Schulbesuch == Vernachlässigung", ungeachtet der Motivation.
Mit dem zweiten Punkt werden die wenigen Familien, die ihren Kindern Homeschooling ermöglichen (wie z.B. Neubronners aus Bremen) subsummiert unter etwa 500.000 notorische Schulschwänzer(Trebegänger).
Genau das scheint mir angesichts aller Konsequenzen des BGH-Beschlusses (Teilsorgerechtsentzüge vermehrt und vornehmlich gegen sich unabhängig Bildende) beabsichtigt, um in der Öffentlichkeit und in neuen Gesetzen mit Fug und Recht, also gut begründet und massiv gegen die Suche der Bevölkerung nach Schulalternativen vorgehen zu können. Die öffentliche Entrüstung gegen womöglich kriminelle Schulschwänzer kam bei der ganzen Sache sehr gelegen, um rigoroses Durchgreifen besser legitimieren zu können.
Wenn Homeschooling auch überall mindestens geduldet wird, so gab es jedoch nie eine Regierung, die begeistert von diesen privaten Initiativen ist, verliert sie doch zunehmend ihr Monopol und ihren Einfluss. In Deutschland kommt noch ein besonderer, traditioneller Stolz in Bildungsfragen dazu, der aber spätestens seit der PISA-Abreibung nicht länger berechtigt ist und am wenigsten einer Regierung zuzuschreiben ist, sondern wenn, dann vielmehr einzelnen Lehrern und Eltern.

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