21. Dezember 2007

Liebe Netzlerner!

Hallo,

wir unterrichten unseren mittlerweile dreizehnjährigen Sohn Mathias seit April 2006 daheim - nicht aus religiösen Gründen, sondern weil er eine sehr unausgewogene Begabungsverteilung hat und die Schule chronisch auf den Fähigkeiten aufbaut, die er nicht hat. Infolgedessen kämpfte er, trotz Gymnsialzulassung seitens der Grundschule, mehrfach bescheinigter Intelligenz im oberen Durchschnittsbereich und kinderpsychiatrisch attestierter Legasthenie, auf der lokalen Hauptschule um ein "ausreichend" in den sprachlichen Fächern, fand dort weder bei Kindern noch Lehrkräften Resonanz für seine Interessen und Begabungen und entwickelte eine "Anpassungsstörung mit Angst und Depression gemischt", wie es das Gutachten des unterfränkischen Landesarztes für Kinder- und Jugendpsychitrie formulierte. Nachdem die Schule sich nicht in der Lage sah, Wesentliches an der dortigen Unterrichtssituation zu ändern, und wir daraufhin unseren Wunsch äußerten, die Unterrichtung unseres Sohnes in die eigenen Hände zu nehmen, entwickelten Schulleitung, die Schulpsychologin der Stadt Aschaffenburg und das örtliche Schulamt ein Beschulungskonzept, wonach Mathias Schüler der Schule bliebe und teils im Klassenverband, teils von mir, der Mutter, im vormittags leer stehenden Tagesstättenraum unterrichtet würde - informell wurde dabei auch angesprochen, inwiefern auch eventuell andere Kinder dabei profitieren könnten, sei es durch Leserechtschreibförderung, sei es durch elterliches Engagement im naturwissenschaftlich/technischen Bereich (Mutter Diplombiologin, Vater Dr. rer. nat. in Physik, arbeitet im Bereich Netzleittechnik in einem mittelständischen Unternehmen). Die praktische Umsetzung dieses Modells im Herbst 2006 hatte jedoch nur knapp zwei Wochen Bestand, dann wurde es seitens der übergeordneten Schulbehörde der Regierung Unterfranken gestoppt, wobei man sich trotz wiederholter Anfragen unsererseits kategorisch weigert, sich inhaltlich mit unserer Forderung nach einem Unterricht, der Mathias gerecht wird, zu befassen.

Die praktischen Auswirkungen unseres Unterrichts sind:

1.dass Mathias mittlerweile brauchbar liest: im Frühsommer 2006 fragmentierte eine knapp siebzigseitige Detektivgeschichte aus der "Detektiv Kwiatkowski"-Reihe von Jürgen Banscherus auf dem Niveau des zweiten Schuljahrs, groß gedruckt und reichlich bebildert, für ihn in eine Ansammlung mehr oder weniger verstandener Einzelepisoden, und die Auflösung des Falls entging ihm - mittlerweile hat er u.a. mehrere Romane von Walter Moers und den neueseten Artemis-Fowl-Band mit Verständnis gelesen 2. dass wir einen Zugang zur Rechtschreibung und den Fremdsprachen gefunden haben, auf dem sich weiter aufbauen lässt, der jedoch sehr von dem abweicht, was derzeit Usus ist - u.a. nutzen wir das Fingeralphabet der Taubstummen als Hilfe zum Erlernen der Orthographie 3. Dass Mathias Mathematik, Naturwissenschaften und Technik gemäß seinem Begabungsniveau verfolgen darf - derzeit macht er chemische Experimente mit seinem Vater, lernt, den Asuro-Roboter zu programmieren, wir arbeiten mit dem "Algebra 1"-Buch der Gymnasien und machen Exkurse in die Vektor-Rechnung. Seitens der Schule jedoch hat man ihn sitzen lassen, d.h. er müsste die Klasse 6 wiederholen, weil er in dem Schuljahr dort "keine Leistung gezeigt" habe - klar, er war ja auch keinen Tag dort. Das Jugendamt spielte "den guten Beamten und den bösen Beamten" - mit uns und Mathias reden tat der kleine Praktikant, dem die Drohung der Sorgerechtseinschränkung immer etwas peinlich zu sein schien, der Chef dagegen wies fortwährend auf die Rechtslage, und kaum war der Praktikant fort, bekamen wir die Ladung wegen Sorgerecht vor dem Familiengericht - die Verhandlung wird am 07.12. stattfinden. Im Ordnungwidrigkeitenverfahren beriefen wir uns auf §16 OwiG, mein Verfahren hängt, weil die Richterin kein Urteil sprach, sondern die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagte, das meines Mannes wird am 12.12. sein. Vor etwa vier Wochen bekamen wir einen "Entwurf zur Vollstreckung des Schulzwangs", in dem eine Reihe von Falschdarstellungen zur Sache standen, man sich auf Gesetze und Urteile berief, die u.E. auf uns nicht zutreffen (ob unser ordnungswidriges Verhalten rechtswidrig ist, ist nicht geklärt, solange kein Gericht hier geurteilt hat; und die höchstrichterlichen Urteile zur Schulpflicht beziehen sich auf völlig anders gelagerte Fälle) und man darauf hinwies, dass es hier keine Möglichkeit des Einspruchs gäbe, wir aber Klage gegen die Stadt erheben könnten, dies jedoch keine aufschiebende Wirkung habe - bis zum Ende der Woche hätten wir Zeit für eine Stellungnahme. Wir sandten der Behörde eine entsprechende Kommentierung mit Richtigstellung der Sachlage und juristischer Erörterung zu und bekamen heute morgen den Bescheid dennoch unverändert zugestellt. Im Klartext: Bei uns können Familien finanziell ruiniert (derzeit sind bei uns 2000 Euro Zwangsgeld angesetzt, dies kann sich jedoch, siehe den Fall "Neubronner" in Bremen, schnell in die Höhe schrauben), gegebenenfalls Menschen inhaftiert und Kinder polizeilich der Schule zugeführt werden, ohne dass sich vorab ein Gericht damit befasst. Im Hinblick auf die Sorgerechtsverhandlung werden wir Mathias also nächste Woche vorausslichtlich tatsächlich in die Schule schicken, damit wir wenigstens keine Schwierigkeiten seitens des Jugendamts/Familiengerichts bekommen,wenn wir ausreisen wollen - siehe das BGH-Urteil vom 16.11. Wir würden wirklich gerne hier bleiben, weil wir uns hier eigentlich wohl fühlen - aber wir werden nicht zulassen, dass unser Kind die Schule als funktionaler Analphabet verlässt. (Siehe die Versetzungsbestimmungen an den bayerischen Hauptschulen!!!: versetzt wird man, wenn die Durchschnittszensur "ausreichend" ist und man nicht mehr als drei "mangelhaft" hat, dabei sind alle Fächer mit Ausnahme des Fachs Sport Vorrückfächer. Versetzt werden und einen Hauptschulabschluss bekommen kann man also auch mit einer 6 in Englisch und einer 5 in Deutsch - mit attestierter Legasthenie kann Mathias da tatsächlich kaum durchfallen, solange er psychisch durchhält und sich mitschleifen lässt, indem er lieb und nett ist; O-Ton der Förderlehrerin: Basisfähigkeiten auf der Hauptschule seien nicht, lesen, schreiben und englisch zu lernen, sondern überhaupt zu erscheinen, pünktlich zu sein und die Sachen dabei zu haben. Ob ein so ausgebildetes Kind dann ausbildungsfähig ist, ist dann seine Sache.)

Die Ordnungswidrigkeitsverhandlung war dann am 10.12. - Wie war es gelaufen?

Sorgerecht: Die Richterin schränkte unser Sorgerecht nicht ein. Da ich ihr jedoch gesagt hatte, dass seitens Professor Warnke auch ein Internat, bei dem auf legasthene Kinder Rücksicht genommen wird, o.k. gewesen wäre, verpflichtete sie uns quasi, da nachzufragen. Außerdem schloss sie sich der Meinung des ASD an, dass wir starrsinnig an der Meinung festhielten, nur unsere Beschulung sei o.k. bzw. dass wir hier Forderungen stellten. Dass diese Forderung lediglich war, dass nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen die voraussichtlichen Ergebnisse der vorgeschlagenen Maßnahmen nicht wesentlich schlechter sind als unsere - was uns im Hinblick auf das Erlernen des Lesens, Schreibens und Englisch und der Förderung der mathematischen Fähigkeiten nicht unerheblich zu sein scheint, hatte dann keinen Raum mehr, weil das Verfahren eh schon um eine Dreiviertelstunde überzogen war.

Werners Bußgeldverhandlung: Das war die reine Farce. Werner kam kaum zu Wort, weil der Richter nonstop redete. Er zeigte einen Stapel Urteile zur Schulpflicht, die alle abschlägig beschieden worden wären und meinte, da wäre es zwar um andere Dinge gegangen, er nähme uns ab, dass es uns nur um das Kindeswohl ginge, aber unrechtmäßig sei es trotzdem - wieso, begründete er nicht weiter außer damit, der Staat hätte ein Bildungsmonopol, wer was anderes wolle, müsse was anderes wählen (????); es ginge ihm auch gegen den Strich, Eltern zu verurteilen, bei denen er sähe, dass sie ehrlich das Beste für ihr Kind wollten. Er fragte Werner, ob Mathias Schulphobie gezeigt hätte, und Werner klärte ihn darüber auf, dass Mathias gemäß Gutachten schulängstlich und depressiv gewesen sei wegen der ständigen Mißerfolgserlebnisse aufgrund der Leserechtschreibstörung; dass aber "Schulphobie" ein Terminus technicus aus der Psychoanalyse sei, der beinhalte, dass das Kind nicht zur Schule wolle, weil es Trennungsängste hinsichtlich der Eltern hätte, und das sei bei uns nicht der Fall. Der Richter zeigte sich über alles, was in der Sorgerechtsverhandlung besprochen worden war, bestens informiert und sagte, man hätte sich zusammengesetzt, um zu erörtern, was zu tun sei, und man wolle ja auch kein psychologisches Gutachten, dass das Kind psychisch nicht beschulungsfähig sei, weil man dem Kind die Prozedur und uns die Kosten von einigen Tausend Euro nicht zumuten wolle. Er ermahnte uns, nicht "Michael Kohlhaas" zu spielen (siehe die entsprechende Novelle von Heinrich Kleist) und uns mit dem Staat anzulegen (!!!!) - ziemlich interessanter Hinweis vor dem Hintergrund, dass wir eindeutige Belege dafür lieferten, dass der Staat an manchen Kindern nachweislich vorbeiunterrichtet und es billigend in Kauf nimmt, dass diese dann eben nicht adäquat lesen lernen. Aber schlechte Schulen seien kein berechtigter Grund, das Kind nicht zur Schule zu schicken (Unseres Erachtens falsch: die allgemeine Feststellung der Schulqualität nicht. Aber der Nachweis, dass das eigene Kind geschädigt wurde und wird, doch wohl, oder?) Er verwies auf das Urteil vom 16.11.{BGH-Beschluss, wir berichteten} und dass das Jugendamt sicher noch mal bei uns vorbeischauen würde. Wir sollten tatsächlich nach der Lösung "Internat" schauen, die Kinder würden in der Pubertät gegen ihre Eltern opponieren und sich lösen, und Mathias benötige den Kontakt mit anderen Kindern, die Auseinandersetzungen und all die Erfahrungen. Er würde die Verhandlung bis März aussetzen und dann würde man "die Kuh vom Eis holen" - was er damit meinte, blieb unklar, wir vermuten, er meint damit, wenn Mathias dann lieb und brav in irgendeine Schule geht, will man das Verfahren einstellen. Das will ICH für meinen Teil jedoch definitiv nicht - es ist mir 250 Euro wert, zu erfahren, ob es bei uns strafbar ist, seinem Kind lesen, schreiben und englisch beizubringen und seine Begabungen angemessen zu fördern.

Wir müssen noch über dem Ganzen schlafen. Derzeit scheint es uns, man habe uns eine Schonfrist gegeben, uns rechtzeitig ins Ausland abzusetzen - da Werner dies aus beruflich-finanziellen Gründen nicht können wird (mit fast fünfzig kriegt man nicht so einfach woanders eine Stelle) und die Prognose für Mathias bei seinen Defiziten und Stärken hier meines Erachtens beliebig schlecht ist, auch auf einem Internat, heißt das bloß, man macht unsere Familie kaputt.

Liebe Grüße Irene
ischrieder @ arcor.de

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