19. September 2008

Allgemeine, nicht absolute Schulpflicht

Endlich bestätigt ein Universitätsprofessor des Verwaltungsrechts exakt das, was wir in punkto Schulpflicht schon immer herauszustellen versuchten. In einem Beitrag in der Neuen Zeitung für Verwaltungsrecht (NVwZ 2008, Heft 7, Seite 720ff) war Prof. Dr. Reimer aus Gießen gefordert, zum Thema "Homeschooling als Option?" und zu den vier Kapitelüberschriften I. Rechtswirklichkeit, II. Rechtslage nach dem Grundgesetz, III. Bedeutung der EMRK und IV. Gestaltungsbedarf aus seiner Sicht Auskunft zu geben. Reimer gab seinem Bericht den Titel "Allgemeine, nicht absolute Schulpflicht", aus dem der Tenor ersichtlich wird. In dem sehr sachlichen, aber überaus lesenswerten Beitrag, finden sich beispielsweise folgende, von uns kommentierte Zitate:

"Immerhin lassen sich nur schwer empirische Anhaltspunkte dafür finden, dass es Kindern nach familiärer Beschulung an Integrationsfähigkeit, Toleranz und Mündigkeit fehlte." (Diese Anhaltspunkte fehlen sogar für völlig unbeschulte Menschen.)

"Angesichts der Verschiedenartigkeit der Motive für und der Modalitäten von homeschooling (das ja in der Regel keine Isolation der Kinder bewirkt) verbietet sich ein pauschales Urteil und insbesondere der Kurzschluss vom homeschooling auf eine Gefährdung des Kindeswohls." (Im Gegenteil, für viele Kinder in unserem Erfahrungsbereich, z.B. Down-Kinder, Hochbegabte oder Körperbehinderte, wirkt sich Schulbesuch oder gar Heimerziehung äußerst negativ aus und schmälert das Kindeswohl sogar.)

".. - liegt in der Schulpflicht doch ein höchst intensiver über Jahre dauernder Grundrechtseingriff" (Der Grundrechtseingriff liegt genaugenommen erst in dem schulgesetzlichen Anspruch für einen bedingungslosen Schulbesuch als Aufenthaltsbestimmung und für das sich Aussetzen der öffentlichen Erziehung. Allg. Schulpflicht selbst kann noch vieles bedeuten, wie wir im Ausland sehen.)

"Schulpflicht ist damit, bundesverfassungsrechtlich gesehen, eine Option, keine Pflicht der Länder, erst recht keine Grundpflicht der Schüler (und Eltern) kraft Grundgesetzes." (Und selbst die kraft Länderverfassung bestehende Schulpflicht bedeutet immer noch keine Pflicht zur Inanspruchnahme von Schulen oder eine Rechtfertigung für staatlichen Zugriff auf Schüler (und Eltern).)

"Diese Frage ist nicht trivial, weil die 'allgemeine Schulpflicht' des Art. 145 WRV nie absolut war und Heimunterricht keineswegs ausschloss." (Art. 145 der Weimarer Reichsverfassung war im Parlamentarischen Rat die Grundlage für Art. 7 GG)

"Selbst das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 erlaubte - trotz verstärkten staatlichen Zugriffs auf die Schüler - noch in engen Grenzen eine häusliche Beschulung (§5)." (Diese wurde in der Praxis allerdings nur den Kindern ranghoher Parteimitglieder gewährt.)

"Da das Ausmaß der Schulpflicht nicht Gegenstand der Diskussionen des Parlamentarischen Rates gewesen und des Art. 7 GG  geworden ist, gibt die schulimmanente Regelung des Absatzes 2 nichts für die hier interessierende Frage her. In ähnlicher Weise entfaltet auch die Privatschulfreiheit in Absatz 4 keine Sperrwirkung: denn ..." (Das Schulsystem intern sagt nichts über die Bildungsfreiheiten extern aus)

"Es würde auch überraschen, wenn Grundrechtsträger, denen konkret weder der Besuch einer bestehenden noch die Gründung einer neuen Privatschule möglich ist, auf ein für sie nicht ausübbares Grundrecht verwiesen werden könnten."

"Bedenken begegnen in ihrem Rahmen Argumentationstopoi wie 'Integration' und 'Vermeidung von Parallelgesellschaften', denn Freiheitsrechte schützen auch und gerade vor staatlicher Zwangsintegration; sie gewährleisten geradezu ein Recht auf Bildung von 'Parallelgesellschaften'." (gewollter Pluralismus und ein Breitenspektrum der Ideen und Einflüsse eben)

"Dabei verbietet sich der häufig praktizierte Schluss vom homeschooling auf eine Gefährdung des Kindeswohls. Unzureichend gerät meist auch die Berufung auf den staatlichen Erziehungsauftrag, denn Schule kann (zumal angesichts ihrer Leistungsgrenzen) nicht als alleinseligmachender Weg zur Vermittlung sozialer Kompetenz betrachtet werden." (Die sozialen Milieus gewisser Hauptschulen zeigen auch die Leistungsgrenzen bei der Wissensvermittlung auf.)

"Aus diesen Koordinaten ergibt sich ein Verständnis der Schulpflicht, das europäischer Normallage und internationalen Erwartungen eher entspricht als die bisherige Praxis in Deutschland." (gemeint ist die Praxis gegenüber der Option des Homeschooling)

"Der häufig gewählte Weg der Zwangsintegration durch absolut verstandene Schulpflicht (an häufig lustlos geführten Schulen) ist verfassungswidrig und hat sich als wenig erfolgreich erwiesen. Die Anerkennung des Rechts auf familiäre Beschulung - als einer exit-Option - ist verfassungsrechtlich geboten."

Ein vorangehender Aufsatz eines Mitarbeiters der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. mit gleicher Aufgabenstellung wirkt blass, subjektiv und lebt hauptsächlich von Vermutungen. In den Fußnoten findet sich keine einzige Quellenangabe zu Fachliteratur über "Homeschooling", was ja das vorgegebene Thema war. Die selbst gewählte Überschrift zu dem Aufsatz klingt für im Thema erfahrene Ohren zynisch: "Das Recht auf Schulbesuch". Alles in allem verliert sich der Autor Philipp Thurn in unbestätigten Vorurteilen aus anfänglichen, deutschen Medienberichten über christliche Fundamentalisten und in traditionsgebundenen Ring- und Fehlschlüssen, z.B. dass nur regelmäßiger Schulbesuch Bildung ausmacht.

Quelle: Neue Zeitung für Verwaltungsrecht (NVwZ 2008, Heft 7, Seite 720ff), ein Link kann evtl. in Kürze zur Verfügung gestellt werden.

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