15. August 2008

Bildungsharakiri in Deutschland: "Man kann es eben nicht allen recht machen"

Sie sind eine gesplittete Familie. Mittlerweile. Wie so viele Familien. Wegen des deutschen Schulsystems. Sie ist mit ihrem Kind in England. Er bleibt aus verschiedenen Gründen vorerst in Deutschland. Und wie so oft sind weder Religion noch Freiheitsverlangen die Motive auf der Suche nach schulfreien Bildungsformen. Es sind mal wieder die individuellen Lernvoraussetzungen eines jungen Menschen, der im 0815-System nicht klar kommen kann, ja, darunter leiden muss(te). Es geht schlicht um das Wohl eines Schutzbefohlenen, das im deutschen Dickicht gesetzlicher Bestimmungen keine Chance hat. Daher beruft sich Familie Schießer* in Punkto "Schulbildung in Familieninitiative" nicht auf Elternrechte, sondern auf das Recht des Kindes auf Bildung, Gesundheit und Gleichbehandlung.
Sie unterrichten ihr Kind seit gut zwei Jahren selbst, d.h. seit Mitte des fünften Schuljahrs. Die damalige Situation war, dass Sohn J. sich nachts erbrach, ständig über Kopfschmerzen klagte und nicht in die Schule gehen mochte. Die äußere Situation war die, dass er trotz ehemaliger Gymnasialzulassung mittlerweile in der Hauptschule um ein ausreichend in den sprachlichen Fächern kämpfte und dort für seine Interessen weder bei Kindern noch Lehrkräften Widerhall fand. Mehrere daraufhin durchgeführte IQ-Tests deuteten auf ein sehr inhomogenes Begabungsprofil bei J. hin. Die Schule schien seit Beginn der Schulzeit auf Fähigkeiten aufzubauen, die der Junge bis unter die Debilitätsgrenze schlecht konnte, anstatt seine Begabungen zu nutzen und auszubilden. Eklatantestes Beispiel war der Schriftspracherwerb, insbesondere betroffen war aber auch Englisch bzw. Fremdsprachen. Die unvermeidliche sechs in Englisch war einer der Hauptgründe, weshalb J. von der Realschule auf die Hauptschule überwechselte. Die Fremdsprachen waren der Grund, weshalb er nicht auf dem Gymnasium angemeldet wurde; und in Mathematik (wo er laut IQ-Test große Stärken hat) lernte J. im Wesentlichen, die Dinge so anzugehen, wie er es NICHT konnte - mit dem paradoxen Effekt, dass er Dinge umso weniger konnte, je mehr sie in der Schule geübt wurden. Ein  Gutachten des zuständigen Landesarztes, dem Chefarzt der Kinderpsychiatrie Würzburg, besagt im Klartext, dass das betreffende Kind überdurchschnittlich intelligent und legasthen sei, die Schule es wegen der ständigen Misserfolgserlebnisse krank (Depression, Schulangst) gemacht habe, dass es außer einer Legasthenietherapie eine hinreichend individuelle Förderung im Unterricht benötige und ohne diese die soziale Integration auf Dauer gefährdet sei. Dem Jungen nach sei im Gespräch mit dem leitenden Psychologen der Klinik, also ohne Beisein der Eltern, bestätigt worden, dass familiärer Unterricht o.k. sei und dass im Zusammenarbeit mit den zuständigen Schulbehörden zu klären sei, ob Hausunterricht eine Lösungsmöglichkeit sein könnte. Daraufhin entstanden drei Protokolle über Gespräche mit der zuständigen Sprengelschule, aus denen ersichtlich wird, dass man dort ein über die bisherigen Gepflogenheiten (die J, krank machten!) hinausgehendes Eingehen auf J´s Schwierigkeiten weder für notwendig noch für machbar hält. Der Junge sei erstens gar nicht versetzungsgefährdet und zweitens sei man dafür auch nicht ausgebildet.  Die Förderlehrerin formulierte es so: Basiskompetenzen auf der Hauptschule seien nicht, lesen, schreiben, Mathematik und Englisch zu lernen, sondern überhaupt da zu sein, pünktlich zu sein und die Sachen dabei zu haben. Die Schulleitung akzeptierte das Gutachten als Entschuldigung und erarbeitete zusammen mit der städtischen Schulpsychologin und dem Leiter des Schulamtes ein Modell, wonach J. Schüler der Schule blieb, seine Mutter ihn im vormittags leer stehenden Tagesstättenraum unterrichte und er nur an 8 Wochenstunden (Sport, Werken u.ä.) im Klassenverband teilnahm. Dies hatte jedoch nur zwei Wochen Bestand, danach intervenierte die höhere Schulbehörde und untersagte das Modell kategorisch, ohne auf Einwände einzugehen. Die Schule hätte die Verantwortung, die Kinder zu unterrichten; das Gutachten besage nicht, dass J. nicht in die Schule könne, und wenn Vormünder anderes wollten, müssten sie ein anderes ärztliches Gutachten beibringen. Darauf entspann sich ein Briefwechsel zwischen der Familie und den Behörden. Die Eltern erklärten sinngemäß, dass es schön wäre, wenn die Schule die Verantwortung für die bisherige Unterrichtung von J. übernehmen würde und dass sie J´s Legasthenie für so angeboren hielten wie den Asthmaanfall eines Erdbeerallergikers. Er sei seit dem zweiten Schuljahr unzählige Male medizinisch, psychologisch und heilpädagogisch getestet worden, ohne dass etwas anderes feststellbar gewesen sei als ein sehr inhomogenes Begabungsprofil. Es sei zufällig so, dass der derzeitige Lehrplan ständig auf J´s Schwächen aufbaue anstatt seine Stärken zu Fertigkeiten zu entwickeln und zum Erwerb von Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Englisch zu nutzen. Dies führe dazu, dass er durch die Schulzeit in einer ständigen Mischung aus Über- und Unterforderung gleite, er werde gelobt für Dinge, die er seit Jahren könne und mühe sich vergeblich ab mit anderem; im Bestreben, die unmittelbaren Arbeitsaufträge zu erfüllen, entwickele er Kompensationsstrategien, die leider für den Erwerb der eigentlich angestrebten Fertigkeiten nutzlos bis kontraproduktiv seien, mit dem Erfolg, dass nach anfänglich akzeptablen oder sogar guten Zensuren das Ganze wie ein Kartenhaus zusammenbräche. Alles, was das Kind auf diese Weise lerne, sei, dass Erfolg und Misserfolg für es nicht kontrollierbar sei. Die Schwächen von J. seien nach ärztlichen Aussagen nicht medizinisch relevant, weil sie das tägliche Leben nicht behinderten. Dass sie das Lernen nach Schulkonzept effektiv verhindern, könnten Ärzte nicht feststellen, da sie Krankheiten und keine Lernvoraussetzungen für die jeweils aktuellen Lehrkonzepte prüfen. Die Eltern wiesen darauf hin, in die Schule ein gesundes, intelligentes, gut sozialisiertes, fleißiges, interessiertes, gebildetes, gesättigtes, ausgetobtes, adäquat gekleidetes und nicht durch zu viel Fernsehkonsum abgelenktes Kind gegeben zu haben und nach gut vier Jahren ein krankes, verzweifeltes Kind, das nicht lesen und schreiben könne, keine Chance habe, englisch zu lernen und selbst in Mathematik einiges, das Stoff des ersten Schuljahres ist, nicht verstanden habe, was nur nicht bemerkt oder ernst genommen würde, weil sehr gute anderweitige Fertigkeiten dies kaschierten, zurückbekommen. Solange die Schule kein Unterrichtskonzept vorlegen würde, das in Zukunft nicht am Kind vorbei unterrichtete, würden seine Eltern sein Fernbleiben vom Unterricht als entschuldigt betrachten. Die Antworten der Behörden waren lakonisch, dass dies keine Entschuldigung für das Fernhalten vom Unterricht sei und sie als Eltern die Pflicht hätten, J. in die Schule zu schicken. 
Im Herbst 2007 kam es zu einem Ordnungswidrigkeitsprozess. Die Eltern argumentierten, J. hätte zu Beginn des familiären Lernens eine Detektivgeschichte für das zweite Schuljahr nicht mit Verständnis lesen können, mittlerweile läse er altersgemäße Romane; und ob es bei uns strafbar sei, seinem Kind das Lesen beizubringen. Die Verhandlung wurde vertagt und die Verfahren gegen Schießers dann im Frühjahr 2008 eingestellt. Die Schulbehörde jedoch beantragte bei der Stadt Schulzwang. Diese berief sich dann nicht auf den Schulzwangartikel (§118 BayEUG), sondern auf §119 BayEUG, wonach unerlaubtes Fernhalten von der Schule als Ordnungswidrigkeit gilt, und drohte den Eltern wegen einer Ordnungswidrigkeit 2000 Euro Zwangsgeld an, wenn J. nicht wieder in die Schule ginge. Da sich die Familie zu etwa dieser Zeit auch einer Verhandlung vor dem Familiengericht unterziehen mußte, ging J. also ca. drei Wochen vor Weihnachten noch mal in die Schule. Er sollte in die sechste Klasse, denn man hatte ihn sitzen lassen. Er habe ja im Schuljahr 2006/07 keine Leistung gezeigt. Zeitgleich meldeten Mutter und Kind sich ab und packten die Koffer nach England, wo sie bis heute wohnen. Vater und Mann blieb in Deutschland, um das Haus zu hüten, Steuern zu zahlen und um Ansprechpartner für die erwachsene Tochter zu bleiben, die nach ihrem Abi gerade ein soziales Jahr macht. Was endgültig sein wird, wissen sie nicht - nach ihrer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht peilen sie eher ein englisches GCSE als einen deutschen externen Abschluss an. Nach fünf Jahren Residenz im U.K. könnten sie die britische Staatsbürgerschaft beantragen - falls die Erziehung in einer deutschen Schule als unabdingbare Voraussetzung für die Integration in die deutsche Gesellschaft gehalten wird!
Rechtlich berufen sie sich auf das Recht des Kindes auf Bildung ("eine Grundbildung ist nötig zur Teilhabe an der Gesellschaft") und auf Gleichbehandlung ("andere Kinder dürfen mit dem staatlich geplanten "Lernangebot" lernen"). Vielleicht könnten sie noch "körperliche Unversehrtheit" mit rein nehmen. Die Kernfrage ist: Hat der Staat das Recht, ein Kind in einen Lehrgang zu zwingen, der prinzipiell ungeeignet ist, es das lernen zu lassen, was dadurch gelehrt werden soll? Und welche Möglichkeiten haben dann Eltern und Kinder bei uns, obige Grundrechte des Kindes sicherzustellen? Ist die Anwesenheitspflicht in einer deutschen Schule wichtiger als das Recht des Kindes, lesen, schreiben, englisch und Mathematik zu lernen? Diese Fragen hinderten das Gericht nicht daran, die Familie mit Phrasen und Pauschalantworten aus alten, religiösen Fällen abzuspeisen, anstatt sich mit den Argumenten zu befassen.
Halten wir fest: Lehrer haben an unseren Schulen nicht die Aufgabe, Kindern etwas beizubringen, sondern den Lehrplan in Szene zu setzen und allerlei Arbeitsaufträge gemäß Lehrplan zu erteilen, deren Bearbeitung beurteilt wird. Ob das Kind tragfähige Strategien entwickelt, um die Aufgaben zu erfüllen, ist irrelevant; es wird auch nicht nachgeforscht, weshalb Kinder bestimmte Fehler machen oder weshalb sie scheitern. Lehrer haben quasi von Berufs wegen autistisch zu sein: ihr Unterricht richtet sich an niemanden, und die Bewertung folgt formalen Kriterien, wobei die Lehrkraft in etwa eine Normalverteilung um Befriedigend herum legt. Der Bodensatz wird dann nach unten weitergereicht (Nicht-Versetzung, tiefere Schulform). Scheitern wird so institutionalisiert. Das Versagen wird den Kindern zugeschrieben und nicht dem System, das unterschiedliche  Begabungsprofile nicht immer über den Lehrplan bekommt und dann schlicht inkompatibel ist.
Wie anfangs angedeutet, sind schulische Inkompatibilitäten gar nicht selten. Beispielsweise sei hier nur kurz der Fall einer Psychologiestudentin erwähnt, die tadellos lesen und schreiben konnte. Sie hatte aber noch als Erwachsene nicht die Fertigkeiten, die das Kultusministerium heute per Lehrplan zur Voraussetzung für das Erlernen des Lesens und Schreibens macht. Diese Studentin war auch im englischen Schulunterricht gescheitert, hatte das Lesen dann aber daheim in familiärer Unterrichtung lernen dürfen. In Deutschland dagegen, und mittlerweile nur hier, haben Lehrplangestalter und Lehrkräfte das Recht, im Rahmen "Gleichen Unterricht für Alle" Kinder in Lehrgänge zu zwängen, die prinzipiell ungeeignet sind, sie das lernen zu lassen, was dadurch gelehrt werden soll. Der Originalton des bayerischen Staatssekretärs im Kultusministerium dazu: Man kann es eben nicht allen Recht machen.
* Namen von der Redaktion geändert
(c) Schulbildung in Familieninitiative e.V.

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