10. April 2008

Bildung muss gar nicht weh tun

Der Alltag in einer (fast) normalen Großfamilie

Immer mehr Menschen, Eltern wie Schüler, klagen über zunehmende Probleme im Kontext des Schulwesens. Nur relativ selten dringen Berichte über das alltägliche Mobbing, traumatisierende Gewalterfahrungen, fast zur Normalität gewordene psychosomatische Symptome oder Lernstörungen im Umfeld unserer Schulen in die Medien. Umfragen und Studien unter Schülern zeigen dagegen ein erschreckendes Bild. Aber Bildung muss gar nicht weh tun. Lesen Sie im Folgenden den Selbstbericht von Christine S. über den Alltag in einer (fast) normalen Großfamilie.

Lernen zuhause ist sehr spannend. Man weiß nie vorher so genau, was einen am neuen Tag so erwartet. So ist es richtig schwierig, zu beschreiben, wie unser Alltagsleben als Homeschoolers aussieht.

Morgens gibt es keine Hektik, denn wir alle genießen das Frühstück und die Zeit davor, falls man rechtzeitig aufgestanden ist. Unser Ältester (Boris*, 10 Jahre) steht am liebsten schon vor den anderen auf und setzt sich zu seinen Vögeln in den zimmergroßen Käfig, am besten noch mit einem Buch zum Thema angeln. Der Zweite (Steffen, 9 Jahre), bleibt am liebsten bis zum Rausschmiss im Bett und hängt seinen philosophische Gedanken nach. Anton (noch 6 Jahre), der Dritte, wird als erster vom Hunger in die Küche getrieben und hilft notfalls sogar mit, damit es schneller etwas zu essen gibt.

Nach dem Frühstück gibt es Dienste zu erfüllen. Die beiden kleinen Mädchen (Prisca, noch 3 Jahre und Pia, 2 Jahre alt) haben noch kein festes Programm, aber Anton hat Küchendienst; Steffen und Boris (10 Jahre) wechseln sich ab mit Mülleimer raustragen und fegen. Dann werden die Tiere gefüttert: Wir haben Zwerglöwenkopfkaninchen, die zu unserem Glück drei Junge bekommen haben und 5 Nymphensittiche. Nicht selten faszinieren die Tiere unsere großen Jungens so, dass man sie daran erinnern muss, auch noch andere Dinge ins Auge zu fassen. Als nächstes ist nämlich bei uns das Instrumenteüben dran. Boris spielt Klavier und Gitarre, Steffen übt sich im Trompete blasen, Gitarre spielen und flöten und Anton hat ebenfalls mit flöten begonnen. Das Musizieren funktioniert bei uns so wie auch alle anderen Dinge: Es wird meist mehr Zeit mit Improvisieren oder Ausprobieren verbracht als mit dem eigentlichen Üben. So vergeht die Zeit wie im Nu.

Wenn wir dann ein bisschen weiter in unseren spannenden Büchern gelesen oder gearbeitet haben ist es schon später Vormittag und alle sind etwas geschafft. Nun beginnt der freiere Teil des Tages. Wir glauben, dass Lernen etwas Tolles ist. Das ganze Leben ist voll von Lernen. Besonders viel Spaß macht es ja, wenn man das lernen darf, was einen gerade interessiert oder was man gut kann.

So dürfen die Jungen in Anschluss oft etwas machen, was sie gerade interessiert. Manchmal habe ich (die Mutter Christine) etwas geplant. Falls die Jungen fragen, ob sie etwas anderes machen dürfen, gehe ich meistens sofort oder später auf ihre Ideen ein. In der eigenverantwortlichen Zeit wird bei uns viel gemalt und gebastelt. Dabei gibt es gewissen Phasen, in der bestimmte Tätigkeiten boomen: Fahrzeugquartette selber herstellen, aus Holzresten etwas schreinern, aus Pappe Autofahrgestelle und Karosserien herstellen und durch vorhandene Räder und Achsen fahrbar machen, Insektenlarven sammeln und beobachten, Fußball spielen, lesen, Atlanten studieren, ...

In den Wintermonaten, wo man nicht so viel raus kann, konzentrieren wir uns ein bisschen mehr auf den Erwerb von Gclip_image002rundlagenwissen, besonders in den Fächern Deutsch und Mathematik. Allerdings macht den Kindern das Lernen aus Schulbüchern meist so wenig Freude, dass wir es auf das Minimum begrenzen. Das Einmaleins kann man ja auch durch ein tägliches Akkordrechnen mit Erfolgskurven lernen, was viel mehr Spaß macht als die Päckchen im Mathebuch durchzurechnen.

Überhaupt ist Lernen im Alltag erstaunlich durchschlagend, im Gegensatz zum geführten Lernen, wo oft nur der Lehrende meint, die Schüler wüssten nun mehr. Wenn man ein aktives abwechslungsreiches Leben führt, werden unheimlich viele Themenfelder abgedeckt und Techniken unbewusst so ganz nebenbei erlernt. In Prozentzahlen zu denken ist für Jungen normal, wenn man sich viel mit Maßen und Größenverhältnissen beschäftigt, man braucht dann auch nicht viel Übung, um mit kg, cm und l zurechtzukommen.

Die schriftliche Division ist dagegen eine eher theoretische Angelegenheit, die man begreifen und üben muss. Dafür gibt es hier das Hocherlebnis, eine Technik, die man nur widerwillig gelernt und geübt hat, dann doch verstanden zu haben und zu beherrschen, sodass plötzlich der Frust dem Stolz und der Befriedigung weichen muss.

Unsere Kinder wollen die Welt verstehen. Ihr innerer Drang, die Rätsel des Lebens und des Daseins zu lösen ist ein genialer Motor der Wissensaneignung. Noch wichtiger aber ist für uns das Miteinander, die beziehungsmäßige Seite des Lebens. Wir wollen echte Gemeinschaft haben, also uns gegenseitig tief kennen mit allen Wünschen, Sehnsüchten, Sorgen und Ängsten und uns gegenseitig tragen und helfen bei den unzähligen Macken, die jeder so hat und der Schuld, die wir uns ständig aufladen. Das bedeutet, dass wir uns viel unterhalten, oft diskutieren, unsere Emotionen ausdrücken und versuchen, Qualitätszeiten zu haben, wo man etwas richtig Schönes miteinander macht.

Wir haben schon unzählige Kuchen und Plätzchen zusammen gebacken, Besuche vorbereitet, gebastelt, Lieder gedichtet und gemütliche Abende verbracht. Am meisten, meine ich, lernen Kinder durch gute Vorbilder. So versuche ich als Mutter, die ich die meiste Zeit zu Hause bin, das vorzuleben, von dem ich meine, dass meine Kinder es in der Zukunft brauchen werden. Ordnung halten lernen ist einer dieser Tugenden, genauso wie die Schriftsprache zu nutzen (also keine Aufsätze zu einem festen Thema schreiben, sondern die Schrift nutzbar machen für Kontakte z.B. in Briefform oder Erlebnisse schriftlich festhalten, sich in der Familie Liebesbeweise schreiben oder einen Text für eine Geburtstagsfeier dichten ...)

Dass Lesen und Schreiben wertvoll sind, merkt man bei uns am überfüllten Bücherregel und daran, dass wir viel vorlesen.

Aber was ist die Theorie ohne Praxis!? Wenn unser Papa zuhause ist, wird sehr viel hergestellt. Da lernen die Jungen von selber handwerkliches Geschick ausprägen - zumindest hoffen wir das. Ob es das Umbauen unseres Wohnhauses ist oder das Bauen von Hasenställen, Spielburgen oder Möbeln - es macht großen Spaß, sinnvolle Dinge mit eigener Hand herzustellen und schön werden zu lassen.

Unser Ältester, Boris, hat uns alle mit seiner Tierbegeisterung angesteckt. Aber er ist uns allen weit voraus. Sein Auge und Gehör sind durch sein Interesse so geschult, dass er Dinge wahrnimmt, die der Normalsterbliche übersieht. So hat er schon viele Larven gefangen und bei ihrer Verwandlung zugesehen. Er weiß, wo es welche Schmetterlinge und Käfer gibt und kann anhand von Vogelstimmen bzw. ihrer Flugbewegung die jeweilige Art ausmachen.

Zensuren und Noten sind Fremdwörter bei uns, da wir es nicht nötig finden, die Kinder an allgemeinen Standards zu messen. Jeder Mensch ist so individuell. Außerdem merkt man in so einem kleinen Rahmen wie hier bei uns zuhause schnell, worin man gut ist und wo die Schwächen liegen, ob man sich anstrengt bzw. worin andere gleichaltrige Kinder besser sind als man selbst.

clip_image004Da die Kinder nicht ständig mit vielen Menschen zusammenkommen, sind sie offen für Kontakte und Begegnungen, wobei es keine große Rolle spielt, wie alt die Person ist, mit der sie auf Tuchfühlung gehen. Sie haben keine Hemmungen, sich mit Erwachsenen zu unterhalten und anzufreunden, schätzen es aber auch, wenn sie gleichaltrige als Freunde gewinnen und besonders gefragt sind natürlich ältere Vorbilder, die meine Kinder vor allem in unserer recht umfangreichen Großfamilie und im näheren Bekanntenkreis finden.

Da nicht so viel Zeit- und Termindruck herrscht, haben wir Zeit, viele Dinge zu tun, die andere kaum schaffen wie an Wettbewerben teilnehmen (wir mögen gern „erlebter Frühling“ von der NABU), an Naturführungen und Besichtigungen teilnehmen, ausgedehnte Besuche machen und spontane Gelegenheiten nutzen. Wenn ein Mähdrescher vor unserem Haus arbeitet, stehen die Kinder selbstverständlich daneben und schauen zu, werden Nymphensittichbabys geboren, passen die Jungen einen Moment ab, wo weder Weibchen noch Männchen auf dem Gelege sitzen, um einen Blick auf die wunderschönen kleinen Eier zu werfen.

Homeschooling ist also kinderleicht. Wir fühlen uns wie geschaffen dafür, aber natürlich gibt es auch Tage, an denen man sich in etwas hineinknien muss, an denen nichts läuft und wir uns alle gegenseitig neu motivieren müssen. Das lernende Leben mit den eigenen Kindern ist eine sehr erfüllende Angelegenheit. Man kann alle eigenen Gaben und Fähigkeiten einsetzen und selber haufenweise dazulernen. Dinge, die falsch laufen, kann man berichtigen. Man ist verantwortlich für alles - muss aber nicht alles selber wissen oder können - das ist befreiend und antreibend zugleich.

Leider mussten wir dafür unsere schulfreien Lern- und Lebensbeziehungen in Deutschland verlassen und mussten hier in Dänemark erst neue Kooperationen mit gleichgesinnten Familien aufbauen. In unserem Heimatland mangelt es ganz offensichtlich an Toleranz. Für die Freiheit jedenfalls hat sich das Auswandern gelohnt.

© 2008 Schulbildung in Familieninitiative e.V.

*Namen geändert

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