6. Juni 2008

Die Spitzen des Eisbergs namens Schulzwang

Zeitgleich mit den Vorgängen bei Calw im Schwarzwald (BW) um Familie Landahl (wir berichteten) gab es noch einen anderen, bislang unbekannten Fall in BW, bei dem vereinte staatliche Macht einer Familie die Kinder entzieht. Motiv: Der Deutsche Schulzwang! Hintergrund: Pilotmodell "Erleichterte" familiengerichtliche Maßnahmen gegen Schulverweigerer. Der Unterschied zu Landahls: Die betroffene Familie konnte sich nicht vorher ins Ausland retten.
Lesen Sie hier die zeitlich geordneten Einzelberichte:

H.B. am 09.05.2008: Soeben rief uns Vater G. aus ... an, dass ihm und seiner Frau im Januar 6 ihrer 9 Kinder weggenommen worden seien. Es handelt sich um eine gläubige Familie, deren Mutter während der letzten Schwangerschaft eine starke Schwangerschafts- Diabetes entwickelt hatte, durch die sie sich auch psychisch verändert hatte und sich in eine psychiatrische Klinik begeben musste. Seit der Entbindung (März 08) ist sie diesbezüglich wieder gesund. Jedoch hatten die Behörden im Januar die Situation ausgenutzt und- als der Vater sie in der Klinik besuchte- mit 30 Polizeibeamten und 10 Einsatzfahrzeugen die 6 minderjährigen Kinder zwischen 3 und 17 Jahren zu Hause abgeholt und in Heime verbracht. Dieser Akt der Barbarei wurde damit begründet, dass die Mutter ja psychisch krank sei und die Kinder nicht versorgen könne, der Vater alleine sei überfordert, Schlagwort „Kindeswohlgefährdung“.
Dass es sehr viel mit dem Hausunterricht , der bisher geduldet wurde, zu tun hat, zeigt die Äußerung des Richters, dass die Familie die Kinder wieder bekomme, sobald die Mutter sich psychiatrisch begutachten lassen habe und die Schulanmeldung der Kinder vorliege.
In 4 Wochen soll eine Verhandlung stattfinden. Ein erfahrener Anwalt aus Stuttgart steht der Familie bei.
Die älteren Töchter brachten es fertig, eine gemeinsame Unterbringung zumindest der 4 Kleineren durchzusetzen. Es gibt noch 2 erwachsene Kinder, und das Neugeborene ist noch bei den Eltern. Regelmäßige Kontakte finden statt.
Den weggenommenen Kindern geht es relativ gut, denn sie haben laut Vater von Haus aus ein fröhliches und starkes Wesen und festes Gottvertrauen. Der Kleinste (3) wurde 5-mal zum Psychiater gebracht, auch die anderen mussten sich testen lassen, angeblich mit positivem Ergebnis.
Die Mutter ist natürlich sehr traurig, macht sich Vorwürfe und hat wenig Kraft (welcher Mutter ginge es anders?).

P.B. am 17.05.2008: ... Am 05.01.2008, mit einem massiven Aufgebot an Polizisten ( 30 Stück ), nahm das Landratsamt Bodenseekreis 6 Kinder fest und steckte sie in Heime ( übrig blieben zwei Volljährige und ein Säugling ).
Heute um 06:30 Uhr liefen die zwei ältesten ( 17 bzw. 14 ) der herausgenommenen Mädchen davon und liefen die 20 km auf Inlinern nach Hause. Als eine Heim-Erzieherin gegen 12:30 von den zwei undankbaren Ausreißerinnen erfuhr, drohte sie mit der Polizei, falls die Mädchen bis 18:30 Uhr nicht zurück ins Heim kehren würden. Die Familie ließ den Termin verstreichen. Gegen 21:30 Uhr tauchten 3  MitarbeiterInnen des JA, mit Polizeibegleitung, auf. Nach einer kurzen Verhandlung stimmte das JA zu, dass die Mädchen bis kommenden Mittwoch – in Erwartung einer Gerichtsverhandlung - zu Hause bleiben dürfen. ...

H.B. am 18.05.2008: Wir waren am Do mit P.B. und Frau in ... und haben die Familie besucht. Der Anwalt Dr. ... will erst einmal ohne Öffentlichkeit die Verhandlung der nächsten Instanz in Freiburg durchführen. Die familiäre Situation ist verständlicherweise sehr angespannt.

H.B. am 02.06.2008: Die beiden ältesten weggenommenen Kinder der G.s, Sara und Priska (17 und fast 15), sind gestern mit dem Fahrrad die 20 km (ohne Erlaubnis der Behörden) nach Hause gefahren, um die Eltern und verbliebenen Geschwister zu besuchen. Danach wollten sie zurückradeln. (Beim letzten Weglaufen, welches auch das erste seit der Wegnahme war, drohte ihnen das Jugendamt, beim nächsten Mal müssten die Eltern den Polizeieinsatz zahlen.) Bei der Rückfahrt stürzte Priska schwer und schlug sich Zähne aus. Darauf kehrten beide zu den Eltern zurück. Der Vater informierte die Behörden, die die sofortige Rückkehr verlangten. Die Eltern erklärten, dass die Kinder unter diesen Umständen erstmal nicht kommen könnten und zu Hause übernachten würden. Gegen Mitternacht erschienen 20 Polizisten und brachten die beiden erstmal ins Krankenhaus, wo es hieß, man könne nichts für Priska tun. Dann ging es weiter ins Heim.
Frau G. berichtete schon vorher, dass die Kinder sehr unter Heimweh litten. Die Kindeswohlgefährdung durch die Behörden ist inzwischen so offensichtlich, dass eine baldige Heimkehr aller Kinder dringend geboten erscheint, damit nicht noch etwas Schlimmeres passiert.
Ein Verdacht auf mögliche Gefährdung des Kindeswohls bei den Eltern reicht nicht zum Einsperren der Kinder, zumal sie deutlich und übereinstimmend sagen, sie wollen heim. Auch haben, um in den Strukturen des Jugendamtes zu denken, die Eltern die ursprüngliche Bedingung längst erfüllt: Die Mutter ist genesen und aus dem Krankenhaus entlassen (schon im Februar). Auch die später aufgestellten Bedingungen sind annähernd erfüllt: Die Schulanmeldungen liegen vor, Gutachter (allerdings selbst gesuchte) werden gerade kontaktiert. Auch informieren die Eltern stets „brav“ die Behörden über den Verbleib der aus eigenem Antrieb weggelaufenen Kinder. Was muss noch geschehen?

P.B. am 02.06.2008: Ich bin soeben vom Vater über den Vorfall informiert. In erster Linie habe ich den Vater gebeten, einen Bericht über den Vorfall sofort an das Gericht zu schicken. Ansonsten wird man sagen, dass die Familie das Kind geschlagen hat. Zum Glück gibt es einen Zeugen.

P.B. am 03.06.2008: Zum Glück waren Priscas Zähne nicht ernsthaft verletzt. (Das Kind trägt eine Spange). ...

Dieser noch unaufgelöste Fall zeigt wieder deutlich, welches Macht- und Willkürpotential die gegenwärtige Praxis der Jugendämter in Zusammenarbeit mit Schulleitern, Polizei und Justiz bereits hat, vor allem in Bayern und seit Ende 2007 in Baden-Württemberg und Sachsen. Das plötzlich massive Auftreten der unionsregierten Behörden nach jeweils langer Zeit der Duldung von Homeschoolern muss seine Ursachen haben. Es darf spekuliert werden. Vielleicht spielt hier die GWG (Gesellschaft wissenschaftlicher Gerichtspsychologie) mit Hauptsitz in München eine Rolle. Jedenfalls ist sie maßgeblich involviert (siehe erster Artikel unten unter "Familie und Kinder"), wie Verknüpfungen über manchmal merkwürdig standardisierte Gutachten belegen. Zum Gesamtkontext gehört dann sicherlich auch der Bericht der Journalistin Hummel vom 18.3.2008 (FAZ, Seite 3) und die kürzlich über AP verbreitete Statistik, dass die Sorgerechtsentzüge bundesweit um das doppelte gegenüber der konstanten Zahl vor 2006 zugenommen haben. Auffällig sind dabei besondere Orte in Bayern. Die Novelle zu §1666 BGB, die gerade unter dem Titel "Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen" in 2. und 3. Lesung vom Bundestag verabschiedet wurde, hat unserer jahrelangen Beobachtung nach ebenfalls mit der bislang unrechten Rechtspraxis in Bayern zu tun. Das neue Gesetz wurde überall mit den tragischen Fällen elterlicher Kindstötung verteidigt, obwohl die Behörden in diesen Fällen alle Möglichkeiten zum Eingriff gehabt hätten. Der Gesetzentwurf wurde aber aus anderen Gründen in Bayern entwickelt und die Initiative ging von dort aus. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte das Bayrische Justizministerium angemahnt, ungerechtfertigte Sorgerechtsverfahren insoweit zu beschleunigen, dass betroffene Kinder schnellstmöglich wieder in ihre Familien zurück könnten. Nun werden die Verfahren zwar beschleunigt (Der anhaltende Druck wird z.B. durch über 400 anhängige EU-Petitionen deutlich), nur leider an der falschen Stelle, nämlich zu Beginn der Verfahren für weitere Inobhutnahmen. Durch die Novelle gelang es mitunter, Eltern zur Not sogar ohne jedes ärztliches Gutachten die Kinder entziehen zu können, wenn z.B. das Jugendamt oder ein Pädagoge gegen die Einschätzung der Eltern für sie eine bessere Förderung in einer bestimmten Einrichtung, Kita oder Schule befindet (per Gutachten einer Pädagogin oder Sozialpädagogin).
Zufällig oder vielleicht auch ganz gezielt (Hinweise liegen dafür vor) sind nun Familien betroffen, die alternative, d.h. schulfreie Bildungskonzepte präferieren. So treffen die ersten, "erleichterten" Sorgerechtsentzüge im Rahmen von Pilotprojekten in Bayern, BW und Sachsen auch einige Familien mit Kindern, die (teilweise oder vollständig) ohne Schule zu Hause lernen. Ein solches Bildungskonzept (Homeschooling-Modell) möchte der Freistaat (bestärkt durch zwei gequält erscheinende Verfassungsgerichtsbeschlüsse) wegen des herrschenden Schulbesuchszwangs gerne als Elternversagen ansehen. Im Herbst 2007 erging ein schulministeriales Schreiben an alle Schulbehörden und Schulleiter/-innen von Bayern, in dem eindringlich auf die politische Sicht bezüglich Schulabsenz aufmerksam gemacht und also auch im Falle pädagogisch begründeter Schulabsenz sofortige Meldung an Jugendamt und Justiz eingefordert wird. Hier verbinden sich dann zwei bayerische Initiativen. Die eine geht vorgeblich gegen Eltern wie die von Kevin und soll offensichtlich Eltern treffen, die sich nicht durch das staatliche Bildungsangebot "Schulbesuch" abspeisen lassen wollen. Die andere richtet sich vordergründig gegen Schulverweigerer und trifft in Wirklichkeit so genannte "Homeschooler" (Freilerner, Hochbegabte, ADHSler, Legastheniker, Behinderte, Mehrsprachige etc.). Die Rechtfertigung für jedes neue Gesetz und das staatliche Durchgreifen gelingt somit problemlos, obwohl tatsächlich diese neuen "Schulsystemdeserteure" erledigt werden sollen, wie die stete ministeriale Erwähnung der beiden oben genannten Verfassungsgerichtsbeschlüsse und deren Studium beweisen. Schnell zogen diese "Lösungen" Kreise nach Baden-Württemberg und in andere unionsregierte Bundesländer. In diesem Zusammenhang sei auch an Hamburg erinnert, wo nach "Sophie" und einer mit Homeschooling auffällig gewordenen Lehrerfamilie der (implizit ohnehin bestehende) "Schulzwang" gesetzlich verankert wurde.

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